Darf ich vorstellen? Ich bin Poppy, die Mohnblume. Meine Schale ist fest und eng, und auch wenn sie ein bisschen stachlig wirkt, ist sie das eigentlich nicht. Und im Innern verbergen sich
herrlich leuchtende Blütenblätter - zart und filigran und recht empfindsam. Ein Glück, dass meine Schale so schön fest sitzt und sie schützt. Nun ja, manchmal ist es schon ein bisschen eng, aber
das nehme ich in Kauf. Denn weiß ich, was passieren würde, wenn sich die Schale öffnete? Was, wenn meine Blütenblätter sich nicht ganz entfalten würden und knittrig blieben? Könnte ich im
Blütenmeer das mich umgibt bestehen, oder wäre ich vielleicht doch zu unscheinbar, oder – schlimmer noch – zu auffällig? Wind und Regen könnten mir zusetzen und mich schneller zum Verblühen
bringen, als mir lieb ist. Und wo wir schon dabei sind – ich will doch nicht verblühen! Ich will leben!
Aber was, wenn die Existenz in meiner Schutzhülle gar nicht das wahre Leben ist?
Wenn das wahre Leben aus genau dem besteht, was mir so riskant erscheint? Aus dem sich Öffnen und Entfalten, aus dem Eintauchen in ein Blütenmeer, daraus, sich Sonne, Wind und Regen auszusetzen
und Kraft und Stärke daraus zu beziehen? Könnte es tatsächlich sein, dass das Blühen und das Teilen dessen, was mich ausmacht, nicht nur Leben für mich, sondern vielleicht auch für andere
bedeutet? Dass es sich womöglich sogar lohnt, eines Tages zu verblühen? Ganz sicher bin ich mir noch nicht, aber ich habe so eine Ahnung, dass es stimmen könnte. Und wenn ich ganz ehrlich bin,
wird es mir in meiner Hülle langsam wirklich eng. Sehr lebendig fühlt es sich hier nicht mehr an.
Und dann höre ich eine sanfte Stimme, die mir „Trau dich!“ zuflüstert. „Hab Mut!“, „Trau dich!“ Immer und immer wieder. Einen anderen Weg, als meinen Mut
zusammen zu nehmen, gibt es wohl nicht, um die Wahrheit zu entdecken. „Trau dich!“ Und dann beschließe ich mit klopfendem Herzen, dass ich es wagen will. Ganz langsam und vorsichtig öffne ich
meine Hülle einen Spalt … und bin gespannt auf das Leben, das vor mir liegt!
